Manchmal fragt man sich – was bleibt.
Was bleibt nach einem Leben in der Prostitution – zwangsläufig meist verbunden mit (organisierter) Kriminalität, Drogen, Alkohol, (sexueller) Gewalt.
Was vor allem bleibt ist ein Bild über unsere Gesellschaft.
Ein trauriges Bild.
Denn was ich und viele Frauen in der Prostitution erlebt haben ist kein Traum aus dem man einfach wieder erwacht und erleichtert aufatmet.
Es ist keine Erfahrung, von der man sagen kann: „das kommt eben mal vor“, eine einmalige Sache.
Nein.
Es war Realität.
Es IST Realität, was da draußen in unserer Gesellschaft jeden Tag passiert.
Es ist Realität, dass Menschen in der Prostitution, überwiegend Frauen, jeden Tag erniedrigenden Handlungen ausgesetzt sind.
Vor ein paar Tagen schrieb mir ein Freier eine Mail, dass wir Prostituierten doch an allem selbst Schuld seien. Wir würden schließlich schauspielern und ein dreckiges, abgekartetes Spiel mit den Freiern spielen, indem wir ihnen Gefühle vortäuschen, die gar nicht existieren, um uns ihr Geld zu holen. Wir seien selbst ein Teil dieses ausbeuterischen Systems der Prostitution und würden es zu einem sehr großen Teil mit am Leben erhalten, mitverantworten, weil wir selbst ausbeuten – nämlich die Freier.
Alle Erkenntnisse der Traumawissenschaft bezüglich der Ursachen und Folgen der sich in der Prostitution befindenden Frauen seien doch nur weit hergeholte Theorien und diese Leute hätten doch keine Ahnung davon wie es in der Praxis denn wirklich aussieht.
Die Mail war lang.
Voller Vorwürfe, voller „ihr Prostituierten seid doch selbst Schuld“. Wir würden dieses Gewaltsystem genauso fördern wie Freier auch, weil wir daran aktiv beteiligt wären.
Und ich habe kurz überlegt: bin ich, so wie dieser Freier es geschrieben hat, wirklich ein Teil dieses ausbeuterischen Prostitutionsmilieus gewesen? Habe ich es mit ernährt? Habe ich überhaupt Freier ausgebeutet? Haben wir prostituierten Frauen dieses verheerende Geschäft, in dem Frauen zu Waren herabgesetzt werden, mitangerichtet, weil wir ANWESEND sind (zumindest körperlich) und unsere „Dienste“ anbieten?
Sind WIR Schuld?
Was bedeutet denn überhaupt „Schuld“?
Kann Schuld nicht erst aus Freiheit resultieren?
Der Freiheit einer Handlung?
Im Strafrecht gibt es zum Beispiel § 20 StGB. Er behandelt die Schuldunfähigkeit von Menschen, die eine Straftat begangen haben. Diese können eine Tat zwar tatbestandlich und rechtswidrig begehen, aber wenn eines der Tatbestandsmerkmale des § 20 StGB auf einen zutrifft, gilt dieser Mensch als schuldunfähig (mit ihm passiert natürlich dann nicht gar nichts, sondern er/sie unterfällt den sogenannten „Maßregeln der Besserung und Sicherung“).
Wir hatten an der Uni mal einen Arzt aus einer forensischen Psychiatrie zu Gast, der einen Vortrag darüber gehalten hat, was mit Menschen dann in der Praxis passiert, die zwar eine Straftat begangen haben, aber eben schuldunfähig sind und deshalb in dem Sinn nicht nach ihrer eigentlich begangenen Tat bestraft werden können. Er hat uns Einblicke gegeben, was in der Praxis genau unter die Tatbestandsmerkmale des § 20 StGB subsumiert werden kann, welche Verhaltensweisen also beispielsweise unter „krankhafte seelische Störung“ oder „schwere andere seelische Abartigkeit“ oder „Schwachsinn“ fallen, wie sich die Leute bei ihm in der Anstalt mit der Zeit entwickeln (oder auch nicht), etc… Es war interessant, aber auch erschreckend, was es alles gibt, mit welchen Verhaltensweisen man als PsychiaterIn teilweise klar kommen muss. Der Arzt wirkte extrem monoton in seiner Stimmlage, immer auf dem gleichen Level. Ich glaube, er war selbst ein bisschen abgestumpft in Bezug auf manche „Fälle“. Das muss man wahrscheinlich zum Selbstschutz auch.
Mir geht es hier jetzt jedenfalls nicht um Menschen, die eine Straftat begangen haben, sondern um Folgendes:
Alle diese „Krankheiten“, die der Arzt aufgelistet hat, sind so extrem unterschiedlich. Dennoch haben sie meines Erachtens eines gemeinsam. Die Menschen sind nicht frei. Nicht frei im Geist, nicht frei in der Entscheidung, nicht frei als menschliches Wesen. Sie sind Unfreie. Man spricht ihnen diesen § 20 StGB, die Schuldunfähigkeit, zu, weil man weiß, dass sie unfrei sind, dass sie nicht BEWUSST handeln (können).
Sie sind wie Marionetten und hängen an unterschiedlichen (nicht sichtbaren) Fäden von denen sie gelenkt werden.
Etwas bestimmt sie. Bei jedem ist dieses „Etwas“ etwas anderes, aber bei jedem ist es nicht das innere Selbst, was einen leitet. Es wurde entweder nie gefunden oder aber verloren oder zerstört, etc…
Und natürlich: einer Marionette wird man nie Schuld zuweisen können, eben weil sie an diesen Fäden hängt und nicht autonom handlungsfähig ist – sie wird geführt, ihre Bewegungen, ihr Auftritt, alles wird gelenkt.
Und jetzt kommt die Übertragung:
alle Frauen, die ich in der Prostitution kennenlernte und die sich prostituierten, glichen lebenden Marionetten. So auch ich.
Prostituierte sind meist Unfreie in ihrem Handeln als Prostituierte.
Sie hingen alle an diesen Fäden, ihr Wille war gebrochen, sie führten ihre Bewegungen zwar selbstständig aus, doch sie waren ihnen vorgegeben – vorgegeben durch dieses „Etwas“, was sie leitet. Oft waren das anhaltende seelische Probleme verursacht beispielsweise durch vorangehende Traumata oder Suchtprozesse, aber auch physische Beeinflussungen, Drohungen von Zuhältern, etc… Man kann dieses „Etwas“ als Marionettenspieler zusammenfassen.
Wie also, wenn man wie eine Marionette an Fäden hängt, soll man anders handeln als die Marionettenspieler es vorgeben?
Irgendwann, wenn es gut läuft, beginnt ein Faden zu reißen und ab und zu merken die Frauen dann, dass sie an Fäden hängen und unfrei sind, dass sie frei werden wollen, der Prostitution entfliehen wollen – aber wie sollen sie denn die restlichen Fäden durchschneiden, wenn sie zum ersten Mal seit Jahren anfangen überhaupt zu realisieren, dass es vielleicht noch etwas anderes gibt als dieses Marionettendasein, sie aber Angst haben und überwiegend immer noch autonom handlungsunfähig sind aufgrund der übrigen Fäden?
Wenn dieser erste Faden gerissen ist, können sie zum ersten mal WOLLEN, aber sie können noch nicht frei werden, weil der Rest der Fäden noch existiert. Die Autonomie fängt erstmals an zu wachsen und das Streben nach einem selbstgesteuerten Leben beginnt, welches so viel mehr beinhaltet als ein Marionettenleben. Man erkennt langsam die Farben des Lebens klar und deutlich. Man fängt an zu begreifen, dass man weitergehen kann als mit diesen Fäden, weitergehen will, weil man unabhängig sein möchte. Und bestenfalls entwickelt man irgendwann, irgendwie die Kraft sich gegen diese restliche Handlungsunfähigkeit mit allem, was einem zur Verfügung steht, zu wehren um die übrigen Fäden durchzuschneiden – und somit der Prostitution, der Unfreiheit, seinen Rücken zuzukehren. Das ist kein einfacher Weg.
Wir (ehemaligen) (Zwangs-)Prostituierten sind mit Sicherheit ein Teil dieses ausbeuterischen Systems, aber wir gehören nicht zu dem Teil, der ausbeutet, wir richten dieses Gewaltsystem nicht mit an, denn wir sind Marionetten in einem System, welches davon profitiert, dass Prostituierte Unfreie sind.
Dieses Prostitutionssystem besteht sozusagen aus 4 Teilen, die sich zusammenfügen.
Die Prostituierten stellen den 4. Teil am Ende der Kette dar von dem die anderen 3 Teile profitieren. Und diese 3 Teile profitieren sogar untereinander, obwohl sie (oft) nichts miteinander zu tun haben und von dem Profit untereinander meist auch gar nichts wissen oder mitbekommen (wollen).
Diese 3 Teile von denen ich spreche sind die Freier, der Staat und die Zuhälter/Menschhändler – wie profitieren sie also voneinander?
Der erste Teil sind die Freier – sie profitieren vom Staat, denn er lässt Sexkauf zu. Nur deshalb können sie sich in diesem hohen Ausmaß ausleben, wie sie es tun. Sie profitieren von Zuhältern und Menschenhändlern, denn diese sorgen unter anderem mit dafür, dass das Geschäft so stattfinden kann (Organisation in Clubs, etc…) und bringen ihnen neue „Frauenware“. Dieses Wort klingt hart, aber warum soll ich nicht aussprechen, was nun mal Realität ist? Auch wenn die Freier nicht von solchen Dingen profitieren wollen und sich davon abgrenzen – sie tun es trotzdem. Auf subjektive Wünsche kommt es hier nicht an. Objektiv profitieren sie. Nur das zählt, denn ein Nicht-Wollen dieses Profitierens ändert nichts an den realen Umständen.
Der zweite Teil ist der Staat – er profitiert davon, dass es Freier gibt, die für Prostitution bezahlen, denn er hat dadurch eine Einnahmequelle – wo keine Nachfrage, da kein Markt. Er profitiert zwangsläufig – auch wenn (wie die Freier) nicht gewollt – an Menschenhändlern und Zuhältern, denn ohne sie würde das Geschäft nicht in dem Ausmaß stattfinden, wie es das tut – traurig, aber leider die Wahrheit. Ohne die Organisation vieler großer Clubs, was auch den „Frauenvorrat“ betrifft, gäbe es keine so hohen Geldeinnahmequellen. Und hier wieder bewusst „Frauenvorrat“, denn die Frau ist nichts weiter als ein Objekt in diesem Milieu – Tatsachen müssen ausgesprochen werden.
Der dritte Teil sind die Zuhälter und Menschenhändler – sie profitieren vom Staat, da er Sexkauf erlaubt und sie so unproblematischer Geld einnehmen können als müssten sich „ihre Frauen“ mit Freiern verstecken. Sie profitieren von Freiern, denn diese sind es, welche das Geld dafür ausgeben, das dann ganz häufig nicht in die Tasche der Prostituierten fließt, sondern in deren. Das Ganze schafft den Zuhältern und Menschenhändlern eine Plattform, auf der sie aktiv aufbauen können.
Herzlichen Glückwunsch.
Ein in sich stimmiges System würde ich mal sagen.
Doch der 4. Teil, die Prostituierten, fehlen.
Alle profitieren von ihrem Dasein, doch wo profitieren denn nun sie?
SIE, ohne die es diesen ganzen oben beschriebenen Profit gar nicht gäbe?
Und wo beuten sie Freier aus?
Ich war 6 Jahre im Milieu.
Mir ist das meiste Geld von Freiern nicht geblieben – was mir geblieben ist, ist ein Bild u.a. von Familienvätern, die nach außen hin vielleicht lieb, nett und unscheinbar schienen, doch bei mir im Zimmer zum Unmenschen mutierten.
Der Staat hat mir Geld genommen in Form von Steuern – während ich größtenteils von diesem hart verdienten Geld selbst gar nichts hatte (warum? – siehe nächste Zeile).
Und von Zuhältern habe ich auch nicht profitiert – in den ersten Jahren habe ich meist 100 % des verdienten Geldes abgegeben.
Ich habe während und nach der Prostitution gekämpft mit massiven Panikattacken, die mich physisch! handlungsunfähig gemacht haben, mit Dissoziationsmechanismen, mit Depressionen, extrem hohem Alkoholkonsum, Nebenwirkungen von Überdosen an Drogen…
Wenn man das Profit nennen kann, wenn man das Ausbeutung von Freiern nennen kann, dann hat jemand das Wort „Profit“ oder „Ausbeutung“ gänzlich nicht verstanden. Ausbeuten ist das Ausnutzen anderer. Man müsste einen Vorteil ziehen.
Ich finde diesen Vorteil für mich nicht – für keine Prostituierte, die ich kennegelernt habe.
Ich und jede andere, die ich kannte, waren UNFREI.
Das wurde den Zuhältern, den Freiern und dem Staat (ob gewollt oder nicht spielt hier keine Rolle) zum Vorteil, aber sicher nicht uns.