Monat: August 2017

Qualitätssiegel für Bordelle

 

Wie bekannt wurde, stellte der BSD (Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V.) diese Woche ein sog. „Gütesiegel für Bordelle“ vor, mit dem Ziel diese in ein besseres Licht rücken zu können.

Hier ist die Pressemitteilung:

24. 08. 2017

Pressemitteilung

BSD – Gütesiegel schafft kontrollierte Qualität, Transparenz, Service
und Seriosität der Prostitutionsbranche.
Wir sind angetreten, der allgemeinen Verunglimpfung und den vielen falschen
Vorstellungen über die Strukturen und die Arbeitsabläufe in den Bordellen
entgegen zu treten. Das BSD-Gütesiegel der Stufe I stellt klar:
Wer ist InhaberIn, wie kann diese/r erreicht werden, wie groß ist das Bordell, die
Mindestanforderungen – auch nach dem ProstSchG – werden erfüllt, in der
Selbstverpflichtungserklärung positioniert sich der Betrieb deutlich gegen Gewalt,
Zwang und Kriminalität und erklärt, sich für faire, selbstverantwortliche und
hygienische Arbeitsbedingungen einzusetzen.
Jan/Bordellbetreiber: „Dieses Alleinstellungsmerkmal motiviert mich, mich
von anderen Mitbewerben noch mehr abzusetzen und weiter in das
Serviceangebot meines Betriebes zu investieren.“


Damit wird auch der Öffentlichkeit, der Politik und den Behörden deutlich
signalisiert: dieser Betrieb erfüllt alle Voraussetzungen einer soliden geführten
Prostitutionsstätte.
Freudenhaus Hase: „Vermehrt fragen Kunden, ob die Sexarbeiter*innen
selbständig und selbstbewusst arbeiten. Selbstverständlich! Das Gütesiegel
gibt jetzt die Bestätigung.“

In den folgenden Stufen I und II erfolgt eine umfangreichere Prüfung der Betriebe
und es werden zwischen 1 und 6 Kronen vergeben. Der Betrieb mit der höchsten
Auditierung der 6 Kronen muss dann viele Anforderungen erfüllen, angefangen
bei einer hochwertigen Ausstattung bis hin zu verschiedenen Zusatzleistungen wie
Speisen, Wellness und Events.
Stephanie Klee/Vorstand BSD e. V.
Wir sind der Interessenverband der Prostitutionsbranche und vertreten sowohl BordellbetreiberInnen als auch SexarbeiterInnen

Quelle: Pressemitteilung vom 24. 08. 2017

 

Ich habe Respekt und Achtung vor jeder Person, die in der Prostitution tätig war oder immernoch ist. Auch vor denjenigen, die nicht für ein Sexkaufverbot einstehen.

Wovor ich keinen Respekt habe sind Menschen, die sich, wie Frau Stephanie Klee hier als Vorstand, bewusst (auch) als Sprachrohr für Prostituierte betiteln, während sie aber die realen unmenschlichen Zustände in der Prostitution, wie sie leider so viele erleben, grauenvoll verharmlosen, was man gleich in einem kurzen Youtube-Video, welches ich verlinkt habe, sehen kann. Und damit stellen sie eben kein Sprachrohr für die Mehrzahl an Prostituierten dar.

Unten im Video ist Frau Klee, die in der obigen Pressemitteilung wie gesagt als Vorstand des BSD agiert, zu sehen, und zwar in einem grünen Drachenkostüm an einem Straßenstrich. Sie „arbeitet“ dort allerdings nicht, sondern versucht in einer ziemlich kuriosen Art und Weise mit einer anderen Frau zusammen die Situation von Prostituierten, die auf dem Straßenstrich ihr Dasein fristen müssen, schön zu reden und zu verharmlosen. U.a. nennt sie den Straßenstrich einen „guten Arbeitsplatz“.

Das Video entstammt dem Format „Drache & Hase Entertainment“. Auf der Webseite steht: „Drache & Hase Entertainment ist ein neues Projekt und setzt mit seinen Kurz-Videos auf Information und Bildung“.

Man siehe sich jetzt bitte das etwa eineinhalb minütige Video an und sage mir dann, wo genau der Zusammenhang zu Information und Bildung besteht. Und dann verrate mir noch wer, wie man das als Interessenverband für Prostituierte ernst nehmen kann.

 

 

 

Aha.

 

Vor einer Frau, die den Vorstand des „Bundesverbandes Sexuelle Dienstleistungen e.V.“ verkörpert, und SO über den Straßenstrich spricht und DAMIT SICHER NICHT die ganzen Armuts – und Zwangsprostituierten vertritt, die jeden Tag schlimmsten Verhältnissen auf der Straße ausgesetzt sind, sich die Spritze setzen, etc… ist mein Maß an Verständnis auf dem Tiefpunkt angelangt. Vor allem wenn man solche Videoauftritte noch als „Bildung“ deklariert. Und nein, die unerträglichen Zustände der Prostituierten auf der Straße ändern sich auch nicht wenn das Wetter schön ist, Frau Klee.

In ihrem Video sagt Frau Klee: „Vielleicht haben sie schnell viele Kunden, die gutes Geld bezahlen und viel Freude machen…“ -> hierzu verweise ich auf folgendes kurzes Video zum Berliner Straßenstrich in der Kurfürstenstraße, das von Billigpreisen, Sex ohne Kondom für 30 Euro und Zwangsprostitution berichtet:

 

 

Ich finde es sehr bedenklich, wie vom Vorstand eines Vereins (mit Sitz in Berlin), der angeblich die Interessen von so vielen Prostituierten vertritt, versucht wird, Straßenprostitution als eine Art der sorglosen Arbeit zu verkaufen – befindet man sich doch ziemlich in der Nähe des Elends der Kurfürstenstraße.

Unter anderem dieser Youtube „Drache & Hase-Kurzfilm“ zeigt auf, dass die BSD-Gütesiegel-Erfindung nicht vor Seriosität strotzt – eben genauso wenig wie die Statements in Frau Klees Video. Der Versuch des Schönredens der Straßenprostitution auf eine humoristische Art und Weise ist kläglich gescheitert. Man muss niemand vom Fach sein um zu erkennen, dass das, was die beiden da von sich geben, mehr als merkwürdig anmutet und mit der Realität auch nicht im geringsten etwas zu tun hat (was man im zweiten Video gut sehen kann).

Mich wundert es doch sehr, dass solche Menschen nun zuständig für Bordell-Gütesiegel sind, die „kontrollierte Qualität, Transparenz, Service und Seriosität der Prostitutionsbranche“ „beurkunden“ sollen.

 

Freudenhaus Hase: „Vermehrt fragen Kunden, ob die Sexarbeiter*innen
selbständig und selbstbewusst arbeiten. Selbstverständlich! Das Gütesiegel
gibt jetzt die Bestätigung.“

Ein Bundesverband, der sich (auch) für Prostituierte einsetzt, freut sich hoffentlich über solche Nachrichten, wenn „Kunden“ vermehrt diese Dinge nachfragen, denn eine vermehrte Nachfrage nach „selbstständig und selbstbewusst“ zeugt davon, dass das Bewusstsein in unserer Bevölkerung dafür steigt, dass in der Prostitution eben zum großen Teil nicht alles in Ordnung ist.

Das Gütesiegel als Bestätigung dafür, dass „selbständig und selbstbewusst“ vorliegt, ist schon höhnisch. Als ob man eine Prostituierte für den Freier markieren würde, mit der Aufschrift: „Dich darf ich nehmen, das Gütesiegel hat gesagt, hier im Bordell ist alles ok, du „arbeitest“ „selbständig und selbstbewusst.“ Wenn der Freier dann Zwang wahrnimmt, kann er leicht sagen, er hat nichts gemerkt, er wusste von nichts, denn das Siegel bescheinigte ihm ja schließlich, dass hier alles in Ordnung sei.

Zu versuchen ein Gütesiegel u.a. darüber auszustellen, dass sich ein Mensch in der Prostitution nicht in einer Not – oder Zwangslange befindet, nicht von Kriminalität und Menschenhandel betroffen ist, ist prekär, denn niemand außer der Betroffene selbst und denjenigen, die es ihm antun, kann es wirklich zu 100 % wissen. Wäre es so leicht, einfach alle organisierten Strukturen aufzudecken und zu erkennen, hätten wir schon lange viel weniger Probleme in diesem Bereich… aber es ist eben nicht einfach und das wird es auch durch ein Gütesiegel nicht. Das Einzige, was man durch so ein „Qualitätssiegel“ für Bordelle in diesem Gewerbe erreichen kann, ist ein Fantasiegebilde zu erzeugen. Ein Fantasiegebilde davon, dass ein Gewerbe, was immer weiter entlarvt wird und in Verruf gerät (hier wieder: nicht die Prostituierten, sondern die Prostitution!), doch manchmal „sauber“ sein kann. Eine Vorstellung, die sich wohl viele ersehnen und sich deswegen sicherlich gerne an ihre Fantasie klammern. Vor allem dann, wenn man sie ihnen quasi direkt mit diesem Gütesiegel, dass alles ok ist, auf dem Silbertablett serviert. Allerdings wird die Fantasie dadurch nicht zur Realität, nicht zu dem, was mehrheitlich in diesem Land tagtäglich wirklich passiert.

 

„Damit wird auch der Öffentlichkeit, der Politik und den Behörden deutlich
signalisiert: dieser Betrieb erfüllt alle Voraussetzungen einer soliden geführten
Prostitutionsstätte.“

Der Begriff der „soliden geführten Prostitutionsstätte“ ist doch eher verfehlt. Im Rotlichtmilieu und in der Prostitution ist nichts solide. Es ist ein menschenobjektivierendes und – unwürdiges Geschäft. So etwas kann nicht „solide geführt“ werden, egal wie sehr man auch versucht etwas Gutes daraus zu machen.

Anmerkung/29.8.2017: Die Deutsche Welle hat vom Thema berichtet und zwei Sätze aus meinem Blogbeitrag hier übernommen:

http://www.dw.com/en/german-brothels-get-new-ethical-sex-seal-for-prostitution/a-40274841

http://www.dw.com/pt-br/bord%C3%A9is-alem%C3%A3es-lan%C3%A7am-selo-de-qualidade/a-40281760

 

Gespräch mit Lisa Harmann

Lisa Harmann hat mir ein paar Fragen gestellt:

Sandra Norak* schaffte zum ersten Mal an, da war sie 18. Es sollte sechs Jahre lang dauern, bis sie sich selbst aus dem Sumpf der Prostitution befreien konnte. Heute macht sie sich für das „Nordische Modell“ stark, in dem unter anderem Freier für ihren Besuch bei Prostituierten bestraft werden – und hat dafür ihre Gründe.

Frau Norak, Sie sind Jura-Studentin, 27 Jahre alt, aber Sie sind nicht wie die anderen in Ihrem Jahrgang, denn von 2008 (Edit: 2007) bis 2014 waren Sie in der Prostitution. Wie kam es dazu?

Sandra Norak: Als Schülerin lernte ich im Internet einen „Loverboy“ kennen. Während ich zuhause große Probleme hatte, vermittelte er mir Halt und Liebe und ebnete mir den Weg in die Prostitution.

Wusste Ihre Familie davon?

Norak: Ein paar Leute fanden heraus, dass ich mich prostituierte, aber sie wussten nicht über die wirklichen Umstände Bescheid.

Selbst schuld, sagen einige, wenn man sich auf einen „Loverboy“ einlässt. Was entgegnen Sie ihnen?

Norak: „Loverboys“ sind Männer, die gezielt nach jungen Mädchen oder Frauen Ausschau halten und ihnen Liebe vorspielen mit dem Ziel sie später in Form von Zuhälterei auszubeuten. Sie binden sie emotional an sich und erst wenn diese Bindung besteht, kommt die Prostitution ins Spiel, wobei es verschiedene Vorgehensweisen von „Loverboys“ gibt.

Meiner war um die 20 Jahre älter als ich und ein Ex-Fremdenlegionär. Er verherrlichte das Buch „Sun Tsu – die Kunst des Krieges“. Dieses Buch ist ein Kriegsstrategie-Klassiker. Die Autorin und Psychotherapeutin Marie-France Hirigoyen bezieht sich in ihrem Buch „Die Masken der Niedertracht“, welches das Thema „seelische Gewalt“ behandelt, einige Male auf Sun Tsus Buch indem sie seine Ausführungen über Kriegskunst auf den psychischen Krieg zwischen zwei Personen überträgt und nennt Menschen, die beispielsweise wie mein „Loverboy“ agieren, „die Perversen“. Ihr Buch fand ich erst vor einiger Zeit. „Loverboys“ planen alles von Anfang an. Vor allem junge Menschen sind leicht manipulierbar und sehr gefährdet.

Haben Sie das Gefühl, dass jede Frau auf so einen Menschen reinfallen könnte?

Norak: Nein, es gibt „Push“ – und „Pull-Faktoren“ im Bereich des Menschenhandels, vor allem bei der Migration osteuropäischer Frauen, die in der Prostitution landen. Während Push-Faktoren Menschen in Richtung Prostitution drücken können, wie zum Beispiel Perspektivlosigkeit und Armut, (sexuelle) Gewalterfahrungen oder Vernachlässigung in der Kindheit, etc., können Pull-Faktoren weiter hineinziehen, wie die „Loverboys“ mit ihren falschen Versprechen oder bei Osteuropäerinnen oftmals das Versprechen eines guten Jobs und eines besseren Lebens in Deutschland. Die „Loverboy-Methode“ ist ein komplexer, durchgeplanter und perfider Isolationsprozess. Im Rotlichtmilieu gibt es regelrechte „Schulen“, um diese Taktik beherrschen zu lernen.

Wie sah denn Ihr Tagesablauf damals aus? Gab es da Routinen?

Norak: Mich prostituieren, essen, schlafen. Ich bekam vom Leben draußen gar nichts mehr mit und verwahrloste immer mehr.

Welche Menschen kamen in diesen sechs Jahren zu Ihnen?

Norak: Alle Möglichen. Freier aus jeder Schicht, jedem Beruf, Behinderte, alte und junge Leute, Ledige, Verheiratete, Singles – wobei die meisten liiert oder verheiratet waren. Erschreckend fand ich die hohe Anzahl an Familienvätern. Ich musste feststellen, dass wir leider in einer sehr verlogenen Gesellschaft leben.

Was war das Schlimmste?

Norak: Die Prostitution an sich ist schlimm. Es gibt keine guten Freier und Escort ist genauso Prostitution und seelenraubend wie jede andere Form der Prostitution. Ich hatte viel mit Prostituierten zu tun und egal welche Form sie gerade ausübten oder welchen Freier sie gerade hatten, sie waren danach immer am Ende.

Wie haben Sie das ausgehalten?

Norak: Erst dissoziiert und dann mit viel Alkohol. Seit Beginn des Jura-Studiums beschäftige ich mich auch sehr viel mit der Psychotraumatologie im Hinblick auf die Prostitution und es ist essenziell, dass Menschen darüber Bescheid wissen, wenn sie über Prostitution sprechen. Die Dissoziation ist ein Schutzmechanismus des Gehirns, eine Abspaltung des Empfindens. Wenn, wie hier, sexuelle Handlungen der Freier unerträglich werden und man physisch nicht weg kann, lässt die Dissoziation einen abschalten. Bewusstsein und Wahrnehmung werden getrübt, man befindet sich in einer Art Trance-Zustand und ist depersonalisiert.

Welche Folgen hatte das?

Norak: Auch wenn Sie dissoziieren, erleben Sie die Situationen natürlich trotzdem. Wenn Sie nun nach den Zimmergängen mit bestimmten Schlüsselreizen wie zum Beispiel dem Parfum des Freiers in Berührung kommen, kann das Flashbacks auslösen. Sie erleben dann vergangene Situationen oder Gefühlszustände wieder und zwar in extremer Stärke. Ich hatte viel mit Panikattacken zu kämpfen. Zu dieser Zeit wusste ich nicht, was mit mir los war. Im Bordell und leider auch in den meisten Beratungsstellen sitzen keine spezialisierten Fachkräfte aus diesem Bereich.

Hatten Sie Hilfe in dieser Zeit?

Norak: Nein, aber ich habe mich auch verschlossen. Das ist ein großes Problem: Die wenigsten Prostituierten trauen sich überhaupt Hilfe zu suchen, weil sie wissen, dass sie so tief unten sind, dass richtige und ernsthafte Hilfe raus aus diesem elendigen Leben leider in unserem Land so gut wie nicht existiert.

Wie haben Sie den Ausstieg geschafft?

Norak: Nach ein paar Jahren in der Prostitution habe ich angefangen im Bordell mein abgebrochenes Abitur per Fernstudium nachzuholen, machte unbezahlte Praktika um meinen Lebenslauf zu füllen, bekam einen Minijob und letztlich dann einen Vollzeitjob, der mir den kompletten Ausstieg ermöglichte.

Wie ging es Ihnen danach?

Norak: Nicht gut. Ich hatte mit posttraumatischem Stress zu kämpfen und wusste sehr lange Zeit nicht, was da überhaupt mit mir los war.

Sie sagen, im Grunde prostituiert sich niemand freiwillig, wie meinen Sie das genau?

Norak: Ich habe keine Frau gesehen, die in der Prostitution sein wollte. Nun wird oft angebracht, es gäbe ja auch Menschen, die nicht gerne putzen wollen und trotzdem putzen gehen. Das kann man nur ganz und gar nicht vergleichen. Wenn erfahrene Traumatherapeutinnen und Traumatherapeuten über die Folgen von Prostitution sprechen, dann berichten sie von komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen, die sich nur nach schweren Traumatisierungen entwickeln können. Beim Putzen bekommt man die sicher nicht. In der Literatur über Trauma und Prostitution findet man auch Studien darüber, dass die überwiegende Anzahl an Frauen, die sich freiwillig prostituieren, bereits in ihrer Kindheit diverse Formen von Gewalt erlebten und die Gewalt, wie sie sie dann auch weiter in der Prostitution erfahren, einzig durch die bereits entwickelten Schutzmechanismen aushalten können und dabei aber weiter traumatisiert werden. Hier von Freiwilligkeit zu sprechen ist zynisch. Es geht auch nicht darum, Prostituierte zu pathologisieren, sondern darum zu verstehen, dass Prostitution ein in sich geschlossenes Gewaltsystem ist.

Sie schreiben das Blog „Die Wahrheit über das Leben in der Prostitution“ und gehen mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit. Warum?

Norak: Ich mag nicht mehr einfach zusehen wie Menschen in der Prostitution jeden Tag systematisch zerstört werden und will das Leid, was ich gesehen habe, nicht mit verantworten. Nichts tun, obwohl man etwas tun kann, bedeutet mit verantworten. Wir haben in unserer Gesellschaft schon viel zu viel Gleichgültigkeitsempfinden in Bezug auf so viele Dinge.

Heute kämpfen Sie für die Abschaffung der Prostitution. Wie engagieren Sie sich?

Norak: Ich schreibe, um zu versuchen, das Thema verständlicher zu machen und bin Mitglied bei „Sisters e.V.“. Ich unterstütze die Kampagne „Rotlichtaus“, denn wir brauchen in Deutschland und noch in vielen anderen Ländern das „Nordische Modell“. Auch das Europäische Parlament hat sich 2014 dafür ausgesprochen. Erfahrungen zufolge ist es zudem das effektivste Mittel gegen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Bereits viele Menschen und Organisationen, auch auf internationaler Ebene, stellen sich schon seit einigen Jahren unermüdlich dem Kampf gegen Prostitution und Menschenhandel. Einfach ist dieser Weg nicht, aber es ist ein Weg, den es lohnt zu gehen. Und ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen anfangen ihn zu beschreiten.

*Sandra Norak ist der Name, mit dem sich die Interviewte der Öffentlichkeit stellt. Es ist nicht ihr richtiger Name.

Quelle:

Über das unsichtbare Seelensterben

 

Der folgende Beitrag mag für einige nicht sehr greifbar sein, weil die „Seele“ an sich ein nicht wirklich greifbares Thema ist. Ich bin selbst immer auf „genaue Zahlen, Daten, Fakten, Statistiken, etc…“ aus, aber es gibt Dinge auf dieser Welt, die einfach nicht fassbar sind und jenseits dessen liegen, was wir erklären können. Jenseits dessen, was unsere Vernunft zu glauben vermag. Und eigentlich ist das auch gut so, denn es verleiht unserem Leben einen gewissen Zauber. Wenn ich allein das Wort „Seelenverwandtschaft“ in den Raum werfe, gehe ich davon aus, dass wohl auch ein paar der rationalsten Menschen daran glauben, obwohl es etwas ist, was nicht greifbar ist, was man nicht wirklich erklären kann.

Ich denke also zurück an die Zeit in den Bordellen, wo wir beispielsweise nachts betrunkenen und aggressiven Freiern stand hielten während wir tagsüber schliefen, um uns zumindest so weit zu erholen, dass wir abends wieder antreten konnten. Tag ein, tag aus. Kein Weg, keine Richtung, kein Ziel, keine Träume, keine Gefühle – es herrschte totale Leere. Wir waren entseelt.

Anfangs, als wir mit diesen Männern auf Zimmer gingen, parkten wir unsere Gefühle draußen vor der Türe und als der „Akt“ beendet war holten wir sie dort wieder ab. Wir verwandelten uns quasi kurzzeitig in nichts-empfindende-Roboter und wurden danach wieder zu fühlenden Menschen. Es kam aber der Zeitpunkt, wo wir nach dem Zimmergang die Türe öffneten, um wieder Mensch zu werden, aber nichts mehr da war, was wir hätten abholen können. Wir versuchten stets während des Beiseins der Freier unser Menschsein situationsbedingt abzulegen, um all die Penetrationen durchstehen zu können – irgendwann hatte es uns dauerhaft verlassen. Wir blieben von diesem Moment an auch außerhalb der Zimmergänge Roboter. Orientierungslos wandelnde, nicht im gegenwärtigen Moment teilhabende Schatten unseres Selbst.

Aber warum war das so?

Freier überschritten innerhalb dieser vier Wände unsere Grenzen, nahmen uns unsere Würde. Wenn sie gewalttätig wurden, haben wir nach ein paar Versuchen uns zu wehren es eben ertragen, weil wir gehofft haben, dass sie schneller fertig werden, weil wir zu müde waren, um uns zu wehren und keine Kraft mehr hatten. Keine Kraft immer wieder dasselbe zu sagen, keine Kraft immer wieder darauf hinzuweisen, dass es weh tut, was sie in ihrem oft betrunkenen Zustand sowieso nicht gemerkt haben. Keine Kraft, immer wieder zu versuchen an die Menschlichkeit zu appellieren, wo wir nie eine gefunden haben. Wir resignierten. Ich schreibe hier bewusst „WIR“, denn meine Erfahrungen decken sich mit den Erfahrungen der unzähligen prostituierten Frauen, die ich persönlich kennenlernte.

Irgendwann also hält man als fühlender Mensch nicht mehr nur den „Akt“ an sich, sondern auch diese oben beschriebenen Erinnerungen daran nicht mehr aus. Die Erinnerungen an „Berührungen“, die nicht gewollt waren, die Erinnerungen an Worte und Bilder, die man nie hätte hören und sehen wollen. Die Gedanken daran, dass es bald wieder passieren wird. Man erträgt das Leben, in dem man sich befindet, nicht mehr. Also bleibt man ab einem gewissen Zeitpunkt auch außerhalb des Zimmergangs eine Maschine, der nichts wehtun kann, der man nichts anhaben kann.

Das Problem hierbei ist, dass die Seele, die wir in uns tragen, sich nicht in Gestein verwandelt, sie kann sich an das Roboter-Dasein nicht anpassen. Sie bleibt weich, sie bleibt verletzlich. Wenn wir also unser Menschsein durch äußere Einflüsse verlieren und zur Maschine mutieren um zu überleben, tut unsere Seele das nicht. Wir können sie dann lediglich nicht mehr schreien hören, nicht mehr sich wehren hören, denn ihre Stimme wurde stumm gestellt. Sie versucht uns weiterhin mit ihren Nachrichten zu erreichen, sie kämpft und sie weint – aber vergeblich.

Wenn man den Weg raus aus der Prostitution findet und endlich wieder zum fühlenden Mensch wird, dann sollte man meinen, dass auch die Seele wieder hörbar ist. Jedoch machen viele die Erfahrung, dass sie nichts mehr sagt, verstummt ist. Sie hat während des Prozesses, in dem man sein Menschsein verlor, aufgehört zu atmen, denn sie hat stumm ertragen müssen, was sie nicht ertragen konnte. Sie ist gestorben.

Als ich von Lutz Besser, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Gründer des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachen, den Begriff des Seelenmordes im Hinblick auf die Prostitution in einem EMMA-Artikel las, dachte ich viel darüber nach. Wie auch immer man „die Seele“ nun definiert oder sich vorstellt – ich bin sicher es gibt eine Seele und wie oben beschrieben habe ich sie in der Prostitution reihenweise sterben sehen.

Und an dieser Stelle wird deutlich, warum Prostitution abgesehen von der physischen Gewalt so zerstörerisch ist. Es wird deutlich, warum man zu prostituierten Frauen nicht einfach sagen kann: „So, jetzt bist du aus der Prostitution ausgestiegen, jetzt ist alles vorbei, jetzt hast du es geschafft, jetzt ist alles wieder gut!“

Denn was die Menschen nicht sehen ist genau dieses unsichtbare Seelensterben dieser Menschen. Im Gegensatz zum physischen Mord an einem Körper glaube ich aber daran, dass eine tote Seele wieder lebendig werden kann. Ich glaube das, weil meine Seele wieder lebendig geworden ist – und sie war definitiv ins Jenseits geschritten.

Der Weg sie zurückzuholen allerdings, ihre damals verstummten Schreie und Verletzungen während des Roboter-Daseins zu heilen, ist ein steiniger. Früher als Maschine hat man nicht gefühlt, was die Seele zu sagen hatte. Will man sie nun heilen, muss man auf sie zugehen, sie aus ihrem leblosen Zustand holen, sie reanimieren und ihr zuhören. Das tut weh, weil es bedeutet, all das Damalige zu fühlen. Man muss sich anhören, was sie früher sprach, als sie vergeblich darum kämpfte uns zu erreichen, es aber nicht schaffte, weil wir zu sehr damit beschäftigt waren unsere gegenwärtige Situation zu überstehen.

Zurück zu seiner Seele zu finden und damit zurück ins Leben zu finden, bedeutet sich zu stellen. Es bedeutet schmerzhafte Aufarbeitungsprozesse mit seinem Innersten zu führen. Es hat für mich unter anderem bedeutet, mich in stillen Momenten an schlimme Situationen mit Freiern zurückzuerinnern und anstatt wie damals während der echten Situation dabei abzuschalten oder mich mit Alkohol zu betäuben, nun zu versuchen diese unerträglichen Augenblicke erstmalig wirklich zu spüren, zu fühlen und genau an jener Stelle zu weinen, wo ich früher lächeln und überspielen musste.

Es ist leichter eine Seele zu zerstören als sie wieder zum Leben zu bringen – deshalb muss man versuchen, diesen Seelenmord zu unterbinden. Im Hinblick auf die Prostitution geht das nur, wenn man Freier davon abhält, diese Morde zu begehen. Ab und zu wird angebracht, dass das, was in Freierforen steht, nicht der Wahrheit entspreche, weil sich die Männer in der Realität nie so viel Anmaßendes und Unmenschliches trauen würden.

Hierüber kann ich nur lachen. Ich wünschte, sie würden es sich nicht trauen, doch was ich bei mir und bei anderen prostituierten Frauen gesehen und erlebt habe ist genau das, was in diesen Foren steht.

Herabwürdigendes, menschenverachtendes, ein Lebewesen objektivierendes Verhalten. (zum sog. „guten Freier“ habe ich bereits vor längerer Zeit einen Beitrag geschrieben -> Guter vs. böser Sexkäufer )

Ich wünschte, dass unser Staat endlich die Initiative ergreifen würde was staatliche Ausstiegshilfen aus der Prostitution betrifft, wobei es Menschen braucht, die wissen, was sie zu tun haben, die wissen, wie man prostituierten Menschen den Anfang zu einem Schritt in ein Leben ebnet, welches gezeichnet ist von Respekt, von Ehre, von Wertschätzung und Empathie. Es braucht Hoffnung, es braucht ein freundliches Lächeln, Güte und Warmherzigkeit für diese Menschen, die im schlimmsten Fall noch nie irgendwelche dieser Werte erleben durften und gar nicht wissen, was das bedeutet. Und es braucht Verständnis – auch wenn es Rückschläge gibt, denn manchmal ist es ein Start von ganz tief unten.

Als eine Gesellschaft sollten wir dafür kämpfen Menschen zurück ins Leben zu bringen oder zum ersten Mal überhaupt zum Leben zu bringen. Wir sollten dafür kämpfen, diesen Seelenmord nicht einfach hinzunehmen – denn was ist ein Mensch ohne eine Seele?