Prostitution & Trauma

Gibt es eine so weit verbreitete gute, „freiwillige“ Prostitution in dem hohen Ausmaß, in dem es unsere Gesellschaft annimmt?

Nach allem, was ich in über 6 Jahren im Rotlichtmilieu gesehen und erlebt habe und nach den ganzen Studien aus der Psychotraumatologie im Hinblick auf die Prostitution (bedeutet: Folgen und vor allem Ursachen der Prostitution), mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, kann ich mir erlauben zu sagen:

Nein, zumindest nicht bei den Frauen, die ich erlebt habe, die dauerhaft diese „Dienstleistung“ erbringen, was natürlich nicht bedeutet, dass es nur Zwangsprostitution gibt – zur sog. „Freiwilligkeit“ siehe auch Links weiter unten.

Es ist nicht nur meine Geschichte, die mich das sagen lässt.

Ich habe hunderte Frauen und deren Schicksale kennengelernt, die sie in die Prostitution getrieben haben und sie dort festhalten. Ich habe mit diesen Frauen zusammen gearbeitet und gelebt – ich kenne die vielen verschiedenen und doch ähnlichen Ursachen.

„Die gute Prostitution“ ist eine Wunschvorstellung vieler.
Sie ist das Märchen einer willigen, immer verfügbaren Frau.

Aber es ist nicht real – es bleibt ein Märchen.

Und unsere Gesellschaft sollte anfangen zu begreifen, dass man in der Realität lebt.

Hier einige wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, was Prostitution wirklich ist:

Neben Alkohol und/oder Drogen hilft die Dissoziation den Frauen in der Prostitution, diese ertragen zu können:

Konfrontiert mit extremer Gewalt endet eine Person abgetrennt von sich selbst, emotional betäubt mit einem Gefühl der Leere, der Unwirklichkeit und der Depersonalisation, als ob sie eine Fremde in den Geschehnissen wäre; sie kann automatisch lächeln oder sogar lachen, während sie abgekoppelt von ihrem Körper ist, welcher ein fremder Körper zu sein scheint, ein toter Körper, empfindungslos. Dieser Mangel an Reaktion, an Emotion und an gefühltem Schmerz kommt allen Beteiligten in diesem Prostitutionssystem sehr gelegen, es ermöglicht den Freiern die schlimmsten Demütigungen/Erniedrigungen und sexuellen Übergriffe auszuüben ohne emotionalen Widerstand, die Prostituierte bleibt fügsam und lächelt weiter… Diese Dissoziation ist sehr gefährlich für Prostituierte, denn es lässt sie das Unerträgliche ertragen und es verschlimmert die vollständige Abwesenheit der Empathie der Freier.“ https://sandranorak.com/2017/02/22/dre-muriel-salmona-ueber-prostitution/

Beispielhafte Erklärung anhand meiner eigenen Erfahrung, wie ein Zusammenhang von Prostitution und Dissoziation aussehen kann:

Hier ein (ergänzter) Auszug aus dem Link und meinem veröffentlichen Beitrag:

Oft verstehen Menschen Dinge nicht, die für sie weder sichtbar noch greifbar sind. Und Dissoziation, die Abspaltung von Empfindungen, Bewusstsein, Identität und Schmerz während einer extremen Gewaltsituation, ist eine solche nicht greifbare Sache: weder während der traumatischen Situation noch wenn sie als Traumafolge auftritt.

Das einzige oftmals, aber nicht zwingend vorausgesetzte, erkennbare äußerliche Anzeichen für eine stattfindende Dissoziation, welches ich auch bei prostituierten Frauen, mit denen ich zusammen mit Freiern auf Zimmer war, oft gesehen habe:

der starrende und regungslose Blick ins Nichts während der 10te oder 20te Freier am Tag eindringt. Weil Dissoziation in ihren Ursachen und Ausmaßen nicht greifbar ist, wird dieser Schutzmechanismus des „Abschaltens aus der Situation“ oft nicht verstanden, was bedeutet, dass (sexuelle) Gewalt in der Prostitution nicht als Gewalt bezeichnet wird, wenn Frauen sich nicht wehren oder nicht weinen, sondern regungslos daliegen und es eben „mit sich machen lassen“.

Es ist sehr wichtig, dass mehr und mehr Menschen verstehen, dass die schlimmsten Formen von Gewalt, mit Hilfe bzw. aufgrund der Dissoziation, in kompletter Stille, in kompletter Wehrlosigkeit, begangen werden können. Viele der Frauen in der Prostitution und auch ich selbst wussten nicht, welche große Rolle Dissoziation in unserem Prostitutionsalltag spielte, was sie mit uns machte, mit unserer Persönlichkeit und unserer Identität. Denn sie war auch unsichtbar für uns.

Auf der einen Seite war die Dissoziation also ein wichtiges Element, um den täglichen Missbrauch überhaupt aushalten zu können. Auf der anderen Seite hat sie uns aber sehr geschadet, weil sie uns immer weiter von uns selbst entfernte und trennte.“