Ich möchte heute die Dissoziation innerhalb der Prostitution näher erläutern – wie sie entstehen kann, wie sie sich äußern kann – anhand meiner Erfahrungen.
Ich möchte veranschaulichen, warum viele Frauen sagen, dass sie freiwillig arbeiten, dass sie es aushalten können – obwohl es nicht so ist und sie dabei sind, immer weiter kaputt zu gehen.
Wer sich ein Video von mir zum Thema Dissoziation ansehen möchte oder noch tiefer einsteigen möchte als dieser Beitrag hier ist, den verweise ich gleich auf meinen englischen Vortrag und Text:
https://digitalcommons.uri.edu/dignity/vol4/iss4/6/
Was also ist diese Dissoziation?
Was sie aus wissenschaftlicher Sicht ist, dazu habe ich ein paar Beiträge weiter unten Frau Dr. Ingeborg Kraus Vortrag geteilt, in dem erklärt wird, was sich dabei im menschlichen Gehirn abspielt: Hier klicken.
Grob zusammengefasst ist die Dissoziation ein Mechanismus, der Frauen u.a. in der Prostitution dabei hilft, all die grausamen Dinge, die sie erleben, auszuhalten, sie erträglich zu machen. Wenn der Stress und der Schmerz in der konkreten Situation zu stark werden und diese Situationen öfter erlebt werden, arbeiten bestimmte Funktionen im Gehirn nicht mehr so, wie sie eigentlich funktionieren sollten, und man kommt in eine Art Trance-Zustand. Man ist wach, aber wie betäubt. Man empfindet weniger, fühlt weniger Schmerz, nimmt weniger wahr, etc… Es kann sich unterschiedlich äußern. Eindrücke, die das Gehirn bekommt, werden anders verarbeitet und man empfindet zum Beispiel Schmerzen als weniger intensiv. Wenn der Mann beispielsweise schnell und grob eindringt und es normalerweise extrem schmerzhaft wäre, ist es während dieses „Abschaltens“ durch den Mechanismus der Dissoziation „nur“ gedämpft schmerzhaft, manchmal, wenn die Dissoziation sehr stark ist und oftmals noch Alkohol und/oder Drogen mitwirken, überhaupt nicht schmerzhaft.
Prostituierte wissen natürlich nicht, dass dieses „weniger Schmerz empfinden“ daraus resultiert, dass Gehirnfunktionen außer Kontrolle sind. Woher sollte man das als Laie auch wissen oder sich überhaupt Gedanken darüber machen?
Daher denken zunächst viele, dass das, was man erlebt, nicht derart schlimm sein kann, dass man daran kaputt geht.
Und genau das ist das Problematische. Genau das ist auch der Grund, warum man Frauen, die in der Prostitution sind und sich für diese aussprechen, keine Vorwürfe machen sollte – denn sie empfinden es, jedenfalls anfangs, oft wirklich als „in Ordnung“, als nicht so schmerzhaft. Sie haben aufgrund der Dissoziation und dieser „Abschalt-Funktion“ diese falsche Wahrnehmung von der Situation und sich selbst. Es erreichen sie Momente des Bewusstwerdens, was bedeutet, Momente, in denen der ganze Schmerz hochkommt, die dann aber wieder dissoziiert werden, um die Situation weiter aushalten zu können. Wenn die Dissoziation nicht oder nicht genügend klappt, kommen Alkohol und/oder Drogen ins Spiel. Fast alle Frauen, die ich während meiner Zeit in der Prostitution kennenlernte, haben, je länger sie in der Prostitution waren, immer mehr Alkohol und/oder Drogen genommen.
Wenn man bedenkt, dass ich zum Beispiel bis zu 20 Männer pro Tag im Flat-Rate-Club „bedient“ habe – jeden Tag, sieben Tage die Woche, vier Wochen lang, fragt man sich schon, wie das möglich im Sinne von aushaltbar ist. Physisch wie psychisch.
Größtenteils widerliche, stinkende Kerle, oft über 70/80 Jahre alt, die mir dann auch noch mit „Dirty Talk“ den Kopf gefickt haben als ob der eigentliche Akt an sich nicht schon genügen würde. Dann Männer mit sehr großen oder schiefen Geschlechtsteilen, die noch mehr schmerzen… als die „Arbeit“ in den Clubs nach der Arbeitszeit immer zu Ende war, habe ich meist in einem der Zimmer geschlafen, in denen ich auch gearbeitet habe und war komplett wund. Wenn es dann den nächsten Tag weiterging, wurde es dementsprechend nicht besser.
Früher habe ich mich nicht gefragt, wie ich das alles aushalte, es war einfach so. Ich hatte auch keine Zeit, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich da eigentlich tat.
Ich tat es – in der Hoffnung, jemandem zu helfen seine Schulden zu bezahlen, in der Hoffnung dadurch geliebt zu werden, in der Hoffnung von zuhause wegzukommen.
Ich tat es, weil ich eine falsche Wahrnehmung hatte.
Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, möchte ich kurz ein paar Zeilen zu meiner Erfahrung mit Magersucht schreiben, denn in der Magersucht ist diese falsche Wahrnehmung ähnlich wie die in der Prostitution. Zu beachten ist allerdings, dass die falsche Wahrnehmung bei der Magersucht eine Körperschemastörung ist und die Dissoziation in der Prostitution, die unerträgliche Gewalt erträglich macht, aufgrund von schweren Gewalterlebnissen einsetzt, also ein Schutzmechanismus des Gehirns ist. Magersucht und Dissoziation sind also zwei ganz unterschiedliche Dinge. Ich ziehe hier nachfolgend demnach einen Vergleich, der eigentlich nicht so ganz passt, der aber (allein) bildlich gesehen dem besseren Verständnis von Dissoziation dienen soll:
„Das Problem an Magersucht ist, dass man eine komplett falsche Wahrnehmung von sich selbst hat/bekommt. Man nennt das eine „Körperschemastörung“. Deswegen ist es oft nicht möglich eine Heilung im Hinblick auf diese Krankheit zu erzielen, da die Betroffenen es selbst nicht sehen und deshalb keine Einsicht zeigen (können).
Es ist nicht so, dass mir Knochen gefallen hätten – ich habe nur leider ernsthaft nicht im Spiegel gesehen, dass ich derart dünn bin. Um zu verdeutlichen, was ich meine, hier ein Bild:

Man blickt in den Spiegel und sieht überall Kilos, die überhaupt nicht vorhanden sind.
Verstanden habe ich diese falsche Wahrnehmung in Form einer Körperschemastörung erst Jahre nach der Magersucht, als ich Bilder von mir sah. Das war schon erschreckend. Da sah ich zum ersten Mal, wie dünn ich wirklich war. Das ist auch das Heimtückische und Gefährliche an der Magersucht. Man sieht seinen Körper während der Sucht oft nicht so, wie er eigentlich ist.
Diese falsche Wahrnehmung des Körpers während der Sucht ist vergleichbar mit der falschen Wahrnehmung des eigenen Erlebens in der Prostitution, während der Mechanismus der Dissoziation wirkt – denn in der Prostitution steht man auch vor diesem Spiegel (metaphorisch gesehen) und blickt hinein. Der Unterschied zur Magersucht besteht darin, dass man im Spiegel nicht aufgrund einer Körperschemastörung diesen dicken Körper sieht, der eigentlich dürr ist (wie bei der Magersucht), sondern man sieht wegen der Dissoziation (und dann oft auch Drogen/Alkohol) eine Person, die die ganze Gewalt aushalten kann, die freiwillig und selbstbestimmt als Prostituierte arbeitet – während die wahre Identität, die reale Situation, das reale Ich außerhalb des Spiegelbildes, genau das Gegenteil davon ist. Und langsam immer weiter zerbricht.“
Ich habe in der Prostitution in diesem Spiegelbild zunächst eine junge Frau gesehen, die freiwillig in der Prostitution ist, um für einen Menschen, den sie liebt, Schulden zu bezahlen. Ich habe oft, anfangs, in diesem Spiegelbild gesehen, dass mich die Prostitution physisch und seelisch nicht zerstören kann. Dass ich stark genug bin, um das auszuhalten, denn Prostitution sei ja nur ein „Job“, so wie es in unserer Gesellschaft vermittelt wird und diese damit zu dem falschen Spiegelbild beiträgt.
Davon profitieren Menschenhändler – sie profitieren davon, dass Frauen kein Opferbewusstsein haben.
Relativ spät habe ich begriffen – ich wurde zerstört.
Jeder einzelne Freier hat sich ein Stück meiner Seele genommen.
Es waren tausende von Männern in 6 Jahren.
Diesen Bruch, den man da erlebt, kann man nicht rückgängig machen, deshalb muss man verhindern, dass einem Menschen diese Art von Gewalt passieren kann – und das erreicht man nicht dadurch, dass Sexkauf legal ist.
Aber wie äußert sich nun dieses „Abschalten“, diese Dissoziation, eigentlich?
Kann das jeder, kann man es beeinflussen? Ist doch eigentlich praktisch?
Geht das wieder weg?
Fragen über Fragen.
Ich bin niemand vom Fach, ich kann nur sagen, wie es sich bei mir bemerkbar gemacht hat.
Bis vor einem Jahr wusste ich nicht mal, was Dissoziation überhaupt ist.
Was mit mir all die Jahre los war, auch meine großen Probleme nach der Prostitution (dazu gleich noch), habe ich erst durch diverse Beiträge auf der informativen Seite Trauma and Prostitution herausgefunden, indem ich meine Erlebnisse unter die wissenschaftlichen Erkenntnisse quasi subsumiert habe.
Zuerst einmal habe ich verstanden, wie es mir möglich war, diesen Ekel, diese Wut, diese Verachtung, all diese negativen Gefühle jahrelang während des Zimmergangs von mir fernzuhalten – zumindest so fernzuhalten, dass ich die Zimmergänge ausführen konnte.
Ich habe verstanden, wie ich die letzten Jahre funktioniert habe und dafür bin ich allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich auf diesem Gebiet engagieren, sehr dankbar. Es ist unglaublich wertvoll, wenn man an einem Punkt angekommen ist, an dem man all die schweren Jahre seines Lebens begreift und die ganzen verstrickten Verknüpfungen versteht.
Schien es doch vorher alles so chaotisch und wirr…
In der Prostitution habe ich diesen Dissoziationsmechanismus nie so richtig wahrgenommen – er war hilfreich, er lies mich abschalten. Warum sollte ich also groß darüber nachdenken, warum ich beispielsweise bei Unterhaltungen mit Freiern den Gesprächsinhalt nicht mehr richtig wusste, da ich in Gedanken ganz woanders war. Ich dachte einfach, es ist normal. Wenn einen etwas nicht interessiert, hört man nicht hin und weiß dementsprechend auch meist nicht mehr, was der gegenüber gesagt hat.
Schwierig wird das nur, wenn man 12 Stunden am Tag mit Freiern verbringt, einen alles belastet und alles nicht interessiert und man eigentlich den ganzen Tag überhaupt nicht mehr richtig „da“ ist, weil man ständig in Gedanken abschweift. Über Jahre hinweg. Und sich diesen Mechanismus des „ich-geh-weg-aus-diesem-Moment-hier“ quasi unbewusst „antrainiert“ hat bzw. das Gehirn einem diesen Mechanismus verpasst hat. Alkohol und/Drogen helfen den Frauen neben diesem Mechanismus, das Unerträgliche auszuhalten, sich zu betäuben, aus dem Moment zu fliehen.
Er geht leider irgendwann auch nicht einfach so wieder weg.
Als ich nach dem Ausstieg aus der Prostitution mitten in den Bergen als Pferdepflegerin gearbeitet habe, ist mir diese Dissoziation zum allerersten Mal störend aufgefallen – ich wusste aber natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es der Dissoziationsmechanismus war.
Wie ist mir damals aufgefallen, dass etwas nicht stimmte?
Irgendwann habe ich bemerkt, dass ich keinem Gespräch richtig folgen konnte. Zu anfangs habe ich das gar nicht wirklich wahrgenommen, aber je weiter die Prostitution zurücklag, je mehr ich in diesem normalen Leben verankert war, je mehr ich nicht mehr abschalten wollte, weil mein Leben ja jetzt eigentlich besser war, desto mehr fiel mir auf, dass ich es trotzdem tat.
Wenn mir jemand auch nur 5 Minuten etwas erzählte, war ich sofort in Gedanken woanders und nicht mehr im Gespräch. Das hatte zur Folge, dass ich von den meisten Gesprächen nichts mitbekam, keine Ahnung hatte was mein Gegenüber erzählt hat, obwohl ich an der Unterhaltung eigentlich beteiligt war.
Jetzt weiß ich – in der Prostitution hatte mein Gehirn diesen Mechanismus entwickelt – dort war es hilfreich, dieses Abschalten. Dieses „nicht aufnehmen von unnötigen, mich belastenden und widerlichen Informationen durch die Freier“.
Als ich diese knappen 2 1/2 Jahre in einem Nachtclub gelebt und gearbeitet habe, war es Standard sich vor dem Zimmergang zu unterhalten in diversen Séparées. Teilweise haben sich die Freier mit mir 2/3/4 Stunden unterhalten. Eigentlich kann man es nicht Unterhaltung nennen, denn sie haben meist die ganze Zeit nur allein geredet – meist über die „böse Ehefrau“, die nicht so will, wie sie es gerne hätten. Dann kamen noch einige Stammfreier dazu, die sich in mich verliebten (das sagten sie immer; in was sie eigentlich verliebt waren, war mein Körper) und ich mir immer wieder dieselben Geschichten anhören musste; die gleichen Schleimereien, die falschen Komplimente… das hält man irgendwann nicht mehr aus. Manchmal hätte ich mir gewünscht auch kein Deutsch zu verstehen.
Jedenfalls hat da dieses Abschalten begonnen, zumindest habe ich da zum ersten Mal gemerkt, dass ich ständig in Gedanken weg war. Die Freier konnten reden und reden, ich habe ab und zu geantwortet, sie redeten weiter und ich floh in Gedanken zurück in meine Traumwelt. So wusste ich dementsprechend meist auch nicht mehr sehr viel von Gesprächen. Manchmal waren sie dann beleidigt, wenn ich eine ihrer tollen Geschichten nicht mehr auf dem Schirm hatte, Namen vergessen habe, auch Gesichter vergessen habe… doch das war mir egal, ich machte mir auch keine Gedanken darüber.
Dann im normalen Leben aber, nach der Prostitution, war es leider sehr störend nicht richtig aufpassen zu können – und das Problem:
es ging nicht weg.
Und ich wusste auch nicht was mit mir los war.
Nach einem Gespräch mit jemandem ist mir immer aufgefallen, dass ich schon wieder abgeschalten hatte. Das merkte ich meist dann, wenn ich von dem Gespräch nichts mehr wusste. Ich konnte aber dieses Abschalten nicht verhindern, es war wie bereits erwähnt eine Art Automatismus.
Zudem hatte ich enorme Sprachschwierigkeiten entwickelt. Ich konnte keine Unterhaltung ohne Stottern oder Wörterkauderwelsch sprechen.
Je mehr ich das alles wahrnahm, desto suspekter wurde es mir. Ich hatte ja keine Ahnung davon, was mein Gehirn in der Prostitution für Schutzmechanismen entwickelt hatte, mit welchen ich nun zu kämpfen hatte.
Es war mir unheimlich und ich war allein damit.
Ich dachte ernsthaft an Alzheimer erkrankt zu sein, weil ich so oft von Gesprächen nichts mehr wusste, mich nicht erinnern konnte, mich nicht konzentrieren konnte, diese Probleme mit dem Sprechen hatte.
Jetzt weiß ich, dass es natürlich kein Alzheimer war – es war der Mechanismus der Dissoziation, den ich nicht loswurde.
Diese Erfahrung, in der ich wahrgenommen habe „nicht richtig im Hier und Jetzt bleiben zu können“, war erschreckend für mich.
Aber ich hatte es ganz einfach verlernt.
In der Prostitution hatte ich verlernt im Augenblick zu sein.
Ich bin geflohen – in den Gesprächen mit den Freiern sowie auch in den Zimmergängen mit ihnen.
Dieser Mechanismus hatte mir dabei geholfen alles auszuhalten.
Leider lies er mich nach meinem Ausstieg ca. 1 1/2 Jahre nicht los.
Es war sehr kräftezehrend.
Zum einen, weil ich selbst nicht wusste, was mit mir los war (ich habe nie eine Therapie gemacht, in der mir jemand erklärt hätte, was in mir vorgeht – wobei ich bezweifle, dass die meisten gewusst hätten, was mit mir los ist – es fehlt oft einfach an der Spezialisierung und dem Wissen um die Thematik und Problematik in der Prostitution)
Zum anderen, weil ich ständig versucht habe immer neue Strategien zu entwickeln um diese Probleme, die ich an mir bemerkt habe, zu beseitigen. Und ich musste irgendwelche Strategien entwickeln, denn es war die Zeit, in der ich mein Abitur schrieb – mündliche Prüfungen anstanden, in denen ich nicht stottern oder die Fragen der Prüfer vergessen wollte. Ich musste ihnen folgen können, ich musste es irgendwie hinkriegen, denn dieses Abitur war mein Schlüssel in ein neues Leben. Ich stand sehr unter Druck.
Bzgl. den Sprachschwierigkeiten habe ich geübt, bevor ich angefangen habe zu sprechen, mir einen Satz im Kopf auszudenken und in Gedanken zuerst aufzusagen bevor ich ihn laut ausspreche – selbst das hat oft nicht funktioniert. Und ihr könnt euch vorstellen, wenn man normal an einem Gespräch beteiligt ist, kann man für einen einzigen Satz nicht einfach mal eine Minute brauchen.
Da redet man halt – war aber zu der Zeit einfacher gesagt als getan.
Bzgl. dem „Nichtfolgenkönnen“ meines Gesprächspartners habe ich irgendwann angefangen mich extrem auf die Unterhaltung zu konzentrieren. Richtig zu konzentrieren, nicht abzuschweifen, meine Gedanken am Boden zu lassen.
Immer wieder, bei jedem Gespräch habe ich das geübt. Mich gezwungen, „da“ zu bleiben.
Das klingt einfach – war es allerdings ganz und gar nicht!
Und ich war richtig verzweifelt.
Ich hatte das Gefühl, dass es immer schlimmer wurde.
Dort in den Bergen war ich während der Arbeitszeit zwar meist der einzige Mensch auf der Anlage.
Dennoch war ich nicht allein.
Es waren jene Lebewesen da, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.
Pferde.
Bereits vor meinem Ausstieg habe ich mich tiefgründig mit ihnen befasst, gelesen über den Umgang mit ihnen, habe eine 1-jährige Weiterbildung in der Tierpsychologie für Pferde besucht, war auf verschiedenen Seminaren, habe mich auch mit dem Thema „Persönlichkeitsentwicklung/Wachstum und Transformation des Bewusstseins“ mithilfe von Pferden beschäftigt. Ich liebte Pferde schon zu diesem Zeitpunkt, aber dieses Transformationszeugs war schon irgendwie Hokuspokus für mich. Ich bin ein eher rational denkender Mensch, dennoch wurde ich eines besseren belehrt.
Die Arbeit mit den Pferden nach der Prostitution hat diesen Mechanismus der Dissoziation, dieses Abschalten, in mir vernichtet. Ich war hilflos und verzweifelt wie ein kleines Kind. Die Pferde haben mich „an die Hand genommen“ und mir gezeigt, was es bedeutet, den Augenblick zu leben – was es bedeutet, im Augenblick zu sein, ihn zu genießen anstatt Angst vor ihm haben zu müssen und fliehen zu wollen. Pferde haben mich zu dieser stabilen Persönlichkeit geformt, die ich heute bin – sie haben mir den Weg dafür geebnet, dass ich nun den Weg gehe, der mich so unglaublich erfüllt – sie waren die besten Lehrer, die ich jemals hatte.
Dazu möchte ich eine Passage aus einem anderen Artikel meines Blogs abdrucken, die ich ein bisschen abgeändert habe:
„Durch Pferde habe ich gelernt authentisch zu sein, denn sie haben mich in der Arbeit mit ihnen regelrecht dazu aufgefordert. Pferde sind Fluchttiere. Sie nehmen jede kleine Regung des Körpers und Schwingungen wahr. In der Natur brauchen sie das um zu überleben, um im Notfall rechtzeitig fliehen zu können.
Wenn ich also traurig war und meine Traurigkeit unterdrückt habe, funktionierte die Arbeit mit den Pferden nicht. Das Longieren, die Bodenarbeit: alles wirkte steif und wenig harmonisch. Egal welche Gefühle ich unterdrückt habe, sobald ich sie unterdrückte, merkten die Pferde, dass etwas nicht stimmte. Ob sie genau die Gefühle wahrnehmen können, die gerade in uns sind, weiß ich nicht, aber aufgrund ihres Fluchtinstinktes wissen sie, wenn man sich verstellt und versucht etwas in einem zu unterdrücken, wenn man probiert, nach außen hin etwas darzustellen, was man innen aber gerade nicht ist; beispielsweise lacht man nach außen hin, währenddessen man tieftraurig ist. Dadurch werden Pferde misstrauisch, denn sie wissen nicht woran sie sind, ob sie fliehen müssen oder ob man keine Gefahr darstellt. Ich dachte immer ich dürfe im Umgang mit ihnen weder meine Trauer, meine Angst noch meine Wut zeigen. Doch was ich im Laufe der Zeit im Umgang mit Pferden gelernt habe, berührt mich noch heute und trotz meiner ganzen Weiterbildungen war es reiner Zufall, dass ich es entdeckt habe.
Hier diese kleine Geschichte:
Ab und zu war ich allein auf Arbeit in einer großen Halle mit einem einzigen Pferd.
Allein, mit dem Pferd, der Musik und meinen Erinnerungen an die Vergangenheit.
Es war an einem Tag, an dem ich sehr traurig war. Meine Oma war zu dieser Zeit gestorben. Ich hörte ein sehr melancholisches Lied im Radio und war den Tränen nahe. Ich musste auch über alles Vergangene nachdenken. Das Pferd führte ich neben mir im Schritt. Ich versuchte meine Trauer zu unterdrücken, da ich es arbeiten und bewegen musste. Irgendwelche Gefühle waren hier fehl am Platz, dachte ich. Ich wollte meine Stimmung nicht an ihm auslassen.
Ich begann es zu longieren, in Gedanken war ich aber nicht wirklich bei der Sache. Nichts funktionierte. Das Pferd lief nicht wie ich wollte, wurde nicht locker, dehnte sich nicht, war richtig stur. Ich wurde wütend, weil nichts klappte an diesem Tag. Die Wut führte dazu, dass ich meine Tränen nicht mehr unterdrücken konnte. Ich blieb stehen und schmiss die Longe auf den Boden.
Da stand ich nun in der Halle, bin auf das Pferd zugegangen, habe mich an das Pferd gelehnt, es umarmt und aus tiefstem Herzen geweint. Den Schmerz ausgedrückt, den ich schon so lange mit mir rumgetragen hatte, den ich aber nie mit jemandem geteilt hatte. Mir fiel es immer schwer mich anderen Menschen zu öffnen.
Da standen wir nun beide. Ich heulend, schluchzend, traurig – aber ehrlich und authentisch. Es war mir möglich mich komplett fallen zu lassen. Ich spürte in diesem Augenblick eine Verbundenheit. Es gab mir das Gefühl, dass es nur dann bereit dazu war mit mir zu sein, wenn ich keine Maske trage.
Als ich mich beruhigt hatte, war mir nicht mehr nach alltäglichem Longieren oder irgendwelchen Gymnastikübungen. Ich ließ es vom Kappzaum los, es sollte machen, was es wollte. Es sollte lebendig sein können, laufen können, Spaß haben können, es sollte genau die Freude fühlen können, die ich dadurch empfunden hatte, dass es mich „angenommen“ hatte. Ich war glücklich in diesem Moment. Ich war Hier, keine versteckten Gefühle. Das hat das Pferd gemerkt. Es wusste in diesem Moment, dass ich authentisch bin, es konnte mich jetzt einschätzen und wusste, dass ich keine Gefahr darstellte.
Nie zuvor hatte ich mit ihm Freiarbeit gemacht, an diesem Tag war es das erste Mal. Ich bewegte mich nun zuerst durch die ganze Halle, es folgte mir aufmerksam, achtete auf mich, meine Bewegungen, meine Körpersprache. Ich war in diesem Moment so im Hier und Jetzt verwurzelt, so echt, dass ich mit dem Pferd mental verbunden war. Ohne es je zuvor geübt zu haben, fing ich an es ohne alles im Zirkel zu longieren, frei, nichts in der Hand. Es hätte machen können, was es wollte, aber es folgte mir, mithilfe nur kleinster Bewegungen meines Körpers, mithilfe meiner Gedanken. Es blieb bei mir im Schritt, Trab und im Galopp. Nur durch kleinste Zeichen wechselte es sauber die Gangarten. Vom Schritt sofort in den Galopp, vom Traben sofort zum Stehen, vom Stehen sofort in den Trab. Nur durch die Anwendung meiner eigenen Energie konnte ich das Tempo der jeweiligen Gangart des Pferdes beschleunigen oder verlangsamen. Es wurde locker. Es trabte nicht nur, sondern es war voller Anmut, harmonisch und mächtig im Ausdruck, gewaltig in seinen Schritten, einfach wunderschön zu beobachten. Es schwebte mit einer Leichtigkeit durch die Halle. Genau mit derselben Leichtigkeit, die ich in diesem Moment empfand.
Ich war da, im Augenblick, im Jetzt.
Ich war eins mit dem Pferd. Eins mit einem Wesen, was doch eigentlich so verschieden ist.
Dieses Gefühl war unglaublich, einfach unbeschreiblich. Es war absolut magisch.
Von da an verstand ich, dass ich in Gegenwart der Pferde weinen kann, wenn ich traurig war, wütend sein kann, wenn ich Wut empfand, und so weiter… ich konnte alles sein, solange ich das auslebte, was ich fühlte und das Pferd mich somit als authentisch einordnen konnte.
Ich musste im Umgang mit ihnen mein wirkliches Ich entdecken, dieses im Hier und Jetzt zulassen und ausleben. Durch dieses authentische Auftreten bin ich mit dem Pferd gedanklich verschmolzen – und das verursachte das schönste Gefühl in mir, was man sich nur vorstellen kann.
Einssein, unendliche Freiheit bei gleichzeitiger Liebe und Lebendigkeit, Akzeptanz im Jetzt durch die Person, die man wirklich ist.
Es ist dieser unglaublich wundervolle Moment des Zusammenseins, der so wahnsinnig intensiv ist, weil er ECHT ist.
Pferde waren es, die mich dazu aufgefordert haben, echt zu sein, ich selbst zu sein und mich dafür in ihre Welt gelassen haben, mir vertraut haben, bereit dazu waren mit mir zu verschmelzen.
Sie zeigten mir, dass es wunderschön sein kann, einen Moment gemeinsam zu leben.
Sie haben viele Momente geschaffen, in denen ich nicht fliehen wollte, in denen ich keine Angst hatte – sondern in denen ich einfach nur tiefstes Glück und das höchste Ausmaß an innerster Zufriedenheit empfunden habe.
Sie haben mich gelehrt authentisch sein zu dürfen, Gefühle zeigen und zulassen zu müssen, um akzeptiert und angenommen zu werden.“
So habe ich also durch sie gelernt, im Augenblick zu bleiben. Nicht ständig abzuschweifen oder abzuschalten. Ich konnte irgendwann dieses „im Augenblick bleiben“ während der Arbeit mit den Pferden auf ein „im Augenblick bleiben“ bei den Menschen übertragen. So wurde es besser mit meiner Sprache und den zwischenmenschlichen Unterhaltungen. In den mündlichen Abiturprüfungen habe ich richtig gut abgeschnitten. Seitdem wurde es immer besser.
Seit nun ca. 1 ½ Jahren habe ich weder Sprachschwierigkeiten noch dieses „Nichtfolgenkönnen-Problem“. Es ist alles weg – und ich bin unglaublich froh darüber!
Einfach in der Vorlesung sitzen zu können, mich melden und mitdiskutieren zu können, dabei bleiben zu können. Eos macht richtig Spaß!
Pferde haben mich verändert, positiv verändert.
Für manchen mag es irrsinnig klingen, aber sie haben mir gezeigt, was echte Akzeptanz und Verbundenheit bedeuten.
Diese Gefühle waren mir bis dahin eigentlich fremd.
Jeder Tag, mit seinen Höhen und Tiefen, ist mittlerweile ein Geschenk für mich – ich habe angefangen das Leben zu genießen, das Studium erfüllt mich, ist spannend. Nicht nur die Liebe zu einem Menschen, sondern auch die Liebe zum Leben selbst kann einen unheimlich glücklich machen.
Ich weiß, wer ich bin, was ich möchte und wofür ich einstehe.
Dafür werde ich mich einsetzen, komme, was wolle.