Deutschland und die Sache mit der Menschenwürde – Eine Weihnachtsreflexion –

Längere Zeit war es jetzt ruhig hier. Ich habe kurz vor Weihnachten einen wichtigen Teil meines Studiums beendet. Durch meinen Schwerpunktbereich habe ich einen großen Einblick in das Europa- und Völkerrecht bekommen, auch in das europäische und internationale Strafrecht sowie in die Geschichte und die Entwicklung des europäischen und internationalen Menschenrechtsschutzes. Ich bin sehr dankbar, dass ich all das lernen kann und diesen Weg nun gehen darf. Ich weiß aber auch um all die Betroffenen, die verzweifelt den Weg raus aus der Prostitution suchen, ihn aber nicht finden, weil sie keine Hilfe oder Angst haben.

Wenn ich an den Anfang meines Studiums zurückblicke, erinnere ich mich an den Zeitpunkt, als ich das erste Mal ein gelbes Nomos Gesetzbuch aus dem öffentlichen Recht vor mir liegen hatte. Auch die deutschen Grundrechte waren Teil dieses Buches. Ich sah Artikel 1 an und war zunächst erstarrt von seiner Wortmächtigkeit. Er liest sich voll tiefer Überzeugung.

Der erste Absatz von Artikel 1 lautet wie folgt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Nachdem ich den Artikel das erste Mal gelesen habe, wurde ich nachdenklich und traurig. Denn wenn ich eines in diesem Land erlebt habe, dann dass die Menschenwürde nicht nur antastbar anstatt unantastbar ist, sondern dass sie für Menschen in der Prostitution, vor allem junge Mädchen und Frauen, oft gar nicht existiert.

Neulich war ich in Frankreich. Kurz vor der Grenze zu Frankreich fühlte ich eine tiefe Verbundenheit zu diesem Land, weil ich wusste, dass ich, wenn ich gleich die Grenzen überschreite, in einem Land sein werde, welches all das, was ich in diesem Blog hier über Prostitution und Menschenhandel geschrieben habe, versteht und für die Rechte der Schwächsten kämpft.

Frankreich hat 2016 anerkannt, dass Prostitution Gewalt ist und ein Sexkaufverbot nach schwedischem Vorbild eingeführt. In Frankreich ist es demnach verboten, Menschen zur sexuellen Benutzung zu kaufen. Ein weiteres Land hat damit den Kampf aufgenommen, der Menschenwürdeverletzung in der Prostitution nicht mehr tatenlos zuzusehen, sondern dagegen aufzustehen, anstatt wie Deutschland mit fadenscheinigen Argumenten zu resignieren. Frankreich hat sich mit diesem Schritt auf die Seite der Vulnerabelsten der Gesellschaft gestellt und kann verdammt stolz auf sich sein!

Obwohl ich dem System entkommen bin, fühle ich mich von Deutschland allein gelassen. Ich habe unzählige Male auch bei anderen Frauen gesehen, dass Prostitution kein Job ist. Ich habe mit eigenen Augen gesehen wie die Freier rücksichtlos in den Zimmern über die Frauen hergefallen sind und ihnen ihr letztes Stückchen Menschsein genommen haben. Ich habe gesehen, wie sie in unserem „modernen, fortgeschrittenen“ Deutschland verwahrlosen, kaputt gemacht, misshandelt und zutiefst in ihrer Menschenwürde verletzt und derer beraubt werden. Legal – jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Und unser Staat kassiert davon auch noch Steuern.

Als ich in Frankreich war, habe ich mich verstanden gefühlt. Meine Würde und die der anderen Frauen wäre verteidigt worden. Kein Mann hätte uns dort legal kaufen können. Keiner hätte uns legal wehtun können, denn Frankreich hat Sexkauf als Unrecht anerkannt. Junge Menschen müssen nicht mit dem Bild aufwachsen, dass es normal ist, sich einen Menschen wie eine Zigarettenschachtel kaufen, benutzen und danach wegwerfen zu können.

Anders in Deutschland: vor ein paar Monaten war ich in Frankfurt und habe dort die Taunusstraße besucht, eine Straße des Frankfurter Rotlichtviertels direkt am Bahnhof. Sie ist jedem zugänglich.

Hier zwei traurige Bilder, wie Kinder und Jugendliche in Deutschland aufwachsen:

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Solche Bilder, Werbung und Prostitution an sich prägen den Blick auf alle Frauen.

Als ich am helllichten Tag durch die Taunusstraße gelaufen bin, musste ich mich auch immer wieder daran erinnern zu atmen, denn dieser Anblick hat mir meinen Atem trotz meiner früheren Erfahrung oder vielleicht gerade deswegen genommen. Ich bin enttäuscht und fassungslos, dass unser Staat noch immer nichts tut. Überall sah ich Müll, drogenabhängige Menschen, völlig zugedröhnt mitten auf der Straße – und mittendrin die Prostituierten und die Bordelle.

Diese Straße war trotz ihrer Größe, ihrer direkten Lage beim Bahnhof, leer und verlassen. Nur dunkle Gestalten waren dort zu sehen. Ich fühlte mich am helllichten Tag mitten in der Stadt nicht sicher – und das traurige ist, keiner ist dort sicher. Hier gelten die Regeln des Milieus. Die Polizei und die Justiz sind in Wahrheit nahezu machtlos gegen diese Strukturen, da die Kriminellen Genies sind, wenn es darum geht, legale Strukturen für ihre Machenschaften auszunutzen, was auch die Europäische Kommission bestätigt.[1]

Wann will unsere Gesellschaft, wann will unsere Politik endlich aufwachen? Mitten in Deutschlands Städten befinden sich unzählige, Vergewaltigungslagern ähnliche, Bordelle, abgesegnet vom deutschen Staat. Und nein, es ist nicht übertrieben oder respektlos, dieses Wort zu benutzen. Es ist eine grausame Tatsache, der in die Augen zu sehen endlich angefangen werden sollte.

Wie ich bereits in anderen Beiträgen geschrieben und verlinkt habe, bekennen sich auch das Europäische Parlament und der Europarat zum schwedischen Modell.

Der Schritt, den Frankreich mit dem Nordischen Modell gewählt hat, ist kein leichter, sondern eine knallharte Aufgabe, wenn es darum geht, ein Sexkaufverbot und ein neues Gesellschaftsbewusstsein vor allem in der Praxis umzusetzen. Für viele scheint es unmöglich, immer wieder hört man von der Politik „Deutschland ist noch nicht so weit“. Dazu kann ich nur eines sagen: diejenigen, denen die Fähigkeit fehlt, an das Gute und bahnbrechende Veränderungen zu glauben, die sollten nicht Politik machen, denn der Glaube daran, dass es möglich werden kann, ist eine Voraussetzung, um den Kampf zu gewinnen.

In Deutschland und überall in der Prostitution sind zu viele Profiteure unterwegs, die einen Richtungswechsel sehr erschweren. Als Profiteure bezeichne ich nicht nur Zuhälter und Menschenhändler, sondern vor allem auch die Freier, die aus jedem Gesellschaftsteil unseres Landes kommen und oftmals hohe Positionen innehaben. Wer möchte sich schon den „Spaß“ mit einer Prostituierten nehmen lassen und für ein Sexkaufverbot plädieren? Die Einführung des Sexkaufverbotes ist ein Schritt gegen breite Massen unserer Bevölkerung, nämlich gegen diejenigen, die jeden Tag sexuelle „Dienstleistungen“ in Anspruch nehmen, meistens bewusst das Elend ausnutzen und davon profitieren.

Wenn jemand so wie ich in der Prostitution war, so kann man den Sieg der Gerechtigkeit in der Luft spüren, wenn man durch Frankreichs Straßen läuft. Ich konnte aufatmen, ich hatte mehr Raum, Sicherheit und Freiheit als irgendwo anders bisher. Menschen, die nie in der Prostitution waren, können wahrscheinlich nicht nachempfinden, was es für Menschen wie mich bedeutet, in einem Land wie Frankreich zu sein, in dem genau das verboten ist, von dem ich gesehen habe, dass es unzählige Menschen kaputt gemacht hat und von dem ich weiß, dass es jeden Tag weitere tausende kaputt macht.

Frankreichs Weg ist wie Balsam auf der Seele und für alle Opfer des Ausbeutungssystems der Prostitution eine Hilfe auf dem Weg der Heilung. Ihre Erfahrung und ihr Leid wird anerkannt. Anerkennung von Gewalt ist ein wichtiger Schritt zur Heilung sowie ein unerlässlicher Schritt in Sachen Gewaltprävention.

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Heute bin ich wieder weit von Frankreich entfernt, aber seine Solidarität gegenüber Menschen, wie ich damals einer von ihnen war, spüre ich immer noch. Viele engagierte Menschen haben für Frankreichs Richtungswechsel gekämpft und es wird ein Kampf bleiben, weil die Sex-Industrie und dessen Profiteure alles tun werden, um diesen Sieg der Gerechtigkeit wieder zu kippen. Die Einführung des Nordischen Modells ist nur der Anfang. Es umzusetzen und es zu halten, so dass alles wirklich funktionieren kann, sind weitere unerlässliche Schritte auf dem Kampf gegen das Prostitutionssystem.

Ich hoffe sehr, dass Frankreich durchhält und dass sie alles tun werden, um ihr Gesetz beizubehalten. Es ist der einzig richtige Weg. Wenn man sagt, dass es falsch ist, einen Menschen zu kaufen, seinen Körper zu handeln, dann gibt es nur einen Weg: es zu verbieten, denn von allein wird der Missbrauch leider nicht aufhören.

Deutschland sagt, Menschen üben in der Prostitution einen Beruf aus, eine sexuelle Dienstleistung.

Frankreich sagt, niemand darf Menschen kaufen, niemand hat das Recht, jemanden sexuell zu benutzen, zu einem Objekt zu degradieren, zu verletzen.

Frankreich sagt damit, es gibt hier eine Würde, die unantastbar ist. Sie zu wahren ist eine Schutzpflicht des Staates.

Was Frankreich und andere Länder begriffen haben, muss Deutschland noch lernen.

Die Weihnachtszeit ist eine Zeit der Besinnung, der Wärme, der Liebe und der Empathie. Vergessen werden dürfen aber nicht jene Menschen, die an diesen Tagen in Bordellen oder anderswo in der Prostitution ihr Dasein fristen müssen. Auch ich war einmal an Weihnachten im Bordell mit Freiern, die danach zu ihren Familien nachhause gefahren sind, um nach dem sexuellen Missbrauch an der Prostituierten und dem Betrug an ihren Frauen und Kindern das „Fest der Liebe“ zu feiern. Daher weiß ich, wie scheinheilig und verlogen Weihnachten sein kann. Es ist traurig, aber Realität, dass viele Männer vor oder nach dem Fest Prostituierte aufsuchen, um dem „Familienstress“ zu entkommen.

Ich möchte deshalb an dieser Stelle all diejenigen ins Bewusstsein aller rufen, die es gerade nicht schön haben und in der Weihnachtszeit sexuelle Ausbeutung anstatt Liebe erfahren.

Deutschland, unternimm endlich was!

[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:52016DC0267&from=DE.

3 Kommentare

  1. Durch das neue sogenannte Prostituiertenschutzgeset verhält sich der deutsche Statt wie ein schlechter Zuhälter, er kassiert von den meistens Osteuropäischen Frauen ein pauschalen Steuerbetrat und sorgt nicht dafür das diese Frauen auch Krankenversichert sind. Das ist massive Ausbeutung von Frauen in Not von Staatswegen !

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  2. Es wäre in der Tat ein starker symbolischer Akt wenn Deutschland dem nordischen Modell folgt. Die Ernsthaftigkeit einer entsprechenden Regelung würde sich dann über den Kontrolldruck durch die Behörden zeigen. Hier hoffe ich, dass die Länder die bereits dem nordischen Modell folgen, auch entsprechend aktiv sind.

    In Deutschland habe ich jedoch eher den Eindruck, dass eine Romantisierung der Prostitution betrieben wird. So erschien z.B. folgender Artikel in unserer regionalen Zeitung:

    https://www.nw.de/lokal/kreis_guetersloh/guetersloh/22331988_Blinkende-Baeume-und-Rotlicht-So-wird-Weihnachten-im-Bordell-gefeiert.html

    Traurig

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